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07.05.2018

Wir müssen über Gewalt und Diskriminierung an Schulen reden

Zentrum für LehrerInnenbildung setzt Zeichen gegen gewaltbereiten Antisemitismus an Schulen. Interview mit Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer.

Das Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL) der Universität zu Köln trägt am 8. Mai zum Zeichen der Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung und gegen den zunehmenden Antisemitismus einen Tag lang die Kippa. Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Er gilt als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus.

Damit schließt sich das ZfL den Solidaritätsbekundungen an, mit denen Menschen Ende April in mehreren deutschen Städten gegen Antisemitismus demonstrierten. Anlass für die Demonstrationen war der tätliche Angriff auf einen 21-jährigen Israeli und seinen Freund am 17. April in Berlin.Das ZfL sieht sich in einer besonderen Verantwortung

für die Schulen und möchte daher auf die steigende Gewaltbereitschaft und den Antisemitismus an Schulen aufmerksam machen. "Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sind an Schulen zunehmend ein Thema, dem wir vorbeugen müssen", sagt ZfL-Geschäftsführerin Myrle Dziak-Mahler.Vor diesem Hintergrund hat das Zentrum für LehrerInnenbildung ein Interview mit dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, geführt.

Interview
Merle Hettesheimer

Immer häufiger berichten Medien über antisemitische Vorfälle in Deutschland. Erst vor wenigen Wochen wurde ein 21jähriger Israeli im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg tätlich angegriffen, weil er eine Kippa trug. Im Dezember 2017 verbrannten Demonstranten öffentlich eine israelische Flagge. Ist Antisemitismus in Deutschland wieder ein Thema?

Abraham Lehrer: Wir beobachten in den letzten fünf, sechs Jahren in der Tat ein Wiedererstarken antisemitischer Haltungen. Menschen, die sich bis dato zurückgehalten oder sich im geschützten Raum geäußert haben, äußern sich auf einmal wieder öffentlich antisemitisch. Immer häufiger bekommen wir beleidigende und diffamierende Briefe, die wir früher anonym erhalten haben, mit Namen und Adresse zugesandt. Menschen jüdischen Glaubens werden offen auf der Straße angegriffen. Offenbar hat der Antisemitismus wieder eine breitere Zustimmung in der Bevölkerung. Bürger "trauen" sich wieder, ihre Meinung zu sagen. Hier hat ein Dammbruch stattgefunden. Dieser Veränderung stellen wir seit einigen Jahren fest. Wir haben darauf hingewiesen und davor gewarnt.

Das bestätigt auch eine im April letzten Jahres vom Expertenkreis Antisemitismus des Bundestags in Auftrag gegebene Erhebung. Laut dieser Studie zeigt ein Drittel der Menschen in Deutschland antisemitische Tendenzen. Wer sind diese Menschen?

Lehrer: Antisemitismus kommt aus der Breite der Gesellschaft und aus ganz verschiedenen Richtungen. Er geht von Rechtsextremen, also von den Neonazis, aus, es gibt aber auch einige Linke mit antisemitischer Haltung. Und wir haben es mit muslimischen Bevölkerungsteilen zu tun, unter denen Menschen ganz offen judenfeindlich eingestellt sind. Inzwischen gibt es auch erste Vorfälle unter den Geflüchteten. Sie vertreten Haltungen, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben, auch offen in Deutschland.

Nun hat die Bundesregierung mit Felix Klein zum 1. Mai einen Antisemitismus-Beauftragten ernannt. Klein plant ein bundeseinheitliches System zur Meldung antisemitischer Übergriffe unterhalb der Strafbarkeitsgrenze einzuführen. Was kann ein Antisemitismus-Beauftragter bewirken?

Lehrer: Das ist eine sehr sinnvolle Maßnahme. Wir unterstützen und fördern auch die Berufung von Antisemitismus-Beauftragten auf Länderebene. Diese Beauftragten können der Gesellschaft bewusst machen, wo sie tatsächlich steht. Für so etwas braucht man eine unabhängige Stelle. Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, dass ein Antisemitismus-Beauftragter nicht ein alleiniges Instrument sein kann, um Antisemitismus zu bekämpfen.

Auch an den Schulen mehren sich Vorfälle von Diskriminierungen und Beleidigungen. Was muss an den Schulen getan werden?

Lehrer: Wenn ich dafür ein Patentrezept hätte, wäre ich glücklich. Aber dafür gibt es sicher keine so einfache Lösung. Wir haben – und da möchte ich die jüdische Gemeinde nicht ausnehmen – in der Vergangenheit Fehler gemacht, weil wir geglaubt haben, wir seien auf dem richtigen Weg. Heute stellt sich heraus, dass wir völlig danebengelegen haben. Wir müssen eine komplette Bestandsaufnahme darüber machen, was sich im Unterricht und in der Ausbildung unsere Kinder und Jugendlichen wandeln muss und was wir verändern müssen, damit junge Menschen nicht ihr Heil im Antisemitismus suchen. Wir müssen kommende Generationen vor so einem Einfluss schützen.

Es gab in jüngster Zeit ja auch Solidaritätsbekundungen. Was können die Bürger tun?

Lehrer: Demonstrationen oder das symbolische Tragen einer Kippa sind wunderbare Signale, mit denen die Gesellschaft zeigt, dass es andere Haltungen gibt. Damit wendet sich eine Gesellschaft offen gegen die, die mit dem Gürtel in der Hand auf andere Menschen losgehen oder Kinder an einer Schule, an der es noch nicht einmal ein jüdisches Kind gibt, mit "Du Jude" beschimpfen. Es ist ein Signal dafür, dass die jüdische Gemeinde nicht allein dasteht. Vor allen Dingen zeigt es den Menschen unserer Gesellschaft, die Antisemitismus ablehnen und die jüdischer Lebensweise positiv gegenüber eingestellt sind, dass sie nicht allein sind, sie sich äußern und ein Zeichen setzen können. Ob es sich nun um Menschenketten oder das Tragen einer Kippa handelt – dies sind alles fantasievolle Instrumente, die Öffentlichkeit schaffen. Sie reichen natürlich nicht aus, um dem Antisemitismus ernsthaft zu begegnen. Aber sie sind ein deutliches Signal gegenüber der jüdischen Gemeinschaft und der Mehrheit der Gesellschaft, weil sie zeigen, dass es noch die anderen gibt. Die, die Antisemitismus ablehnen.